Berufliche Weiterbildung eröffnet neue Chancen
Welche Generation verbindet man gedanklich mit der Bildungsstätte des Anna Haag Mehrgenerationenhauses? Die häufigste Antwort auf diese Frage lautet »Jugendliche«. Und in der Tat ist die Bildungsstätte des Hauses darauf spezialisiert, junge Menschen nach der Förder- oder Sonderschule auf einen Übergang in den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Doch ein zweites Spezialgebiet der Bildungsstätte besteht in Angeboten der beruflichen Weiterbildung – und somit in der Qualifizierung von Erwachsenen. Diese Bildungsmaßnahmen richten sich vornehmlich an Arbeitssuchende, die wieder in das Berufsleben einsteigen wollen, und werden in Zusammenarbeit mit der Agentur für Arbeit und den Jobcentern durchgeführt. Das Altersspektrum der Teilnehmer/innen ist breit gefächert – ebenso wie die biografische Situation, aus der heraus die Motivation zu einer beruflichen Neuorientierung entsteht.
Begonnen hat die Bildungsstätte ihr Engagement in der beruflichen Weiterbildung bereits im Jahr 2001. Damals starteten zwei hauswirtschaftliche Qualifizierungen: Ein Kurs war speziell für junge Arbeitssuchende, der andere für Frauen ab 40 Jahren konzipiert. Seitdem wurden die Qualifizierungskurse stetig weiterentwickelt und laufend an veränderte Situationen am Arbeitsmarkt angepasst. Heute bietet die Bildungsstätte die »Qualifizierung zur Fachkraft für Alltagsassistenz« an, die von Frauen und Männern belegt werden kann. Alltagsassistenten sind gesuchte Fachkräfte, sie werden insbesondere in Altenpflegeheimen, in Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderung und bei ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten eingesetzt. Die Kurse dauern sechs Monate (in Teilzeit) und werden mit einem Teilnahmezertifikat abgeschlossen.
Im Zuge der Belegung der sogenannten »Qualikurse« wurden zuletzt verstärkt Bildungsmaßnahmen mit einem qualifizierten Berufsabschluss nachgefragt. Deshalb etablierte die Bildungsstätte zum September 2015 die »Umschulung zum/zur Hauswirtschafterin«. Diese Maßnahme dauert knapp zwei Jahre, der Abschluss erfolgt mit einer Kammerprüfung. Die Ausbildungs- und Prüfungsinhalte entsprechen denen einer dreijährigen dualen Ausbildung zum/zur Hauswirtschafter/in. Jedoch entfällt der Besuch einer Berufsschule, alle Ausbildungsinhalte werden im hausinternen Unterricht vermittelt.
Rica Pankewitz ist eine der ersten »Umschülerinnen« des Anna Haag Mehrgenerationenhauses – und eine der Interessentinnen, deren Nachfrage mit zur Einführung der neuen Maßnahme beitrug. Die 33-Jährige ist alleinerziehende Mutter zweier Töchter im Teenageralter – gute Schülerinnen, die später studieren möchten. Auf ihre eigene Schulzeit ist die gebürtige Sachsen-Anhaltinerin weniger stolz: Freunde und Feiern waren ihr damals wichtiger als Schule. Mit 14 zog sie daheim aus, ging nach der 9. Klasse mit dem Hauptschulabschluss von der Realschule ab. Sie suchte ohne Erfolg nach einem Ausbildungsplatz, wurde schwanger, kümmerte sich um die Kinder. Nach den Elternzeiten absolvierte sie im Alter von 24 Jahren eine Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme und begann danach eine Ausbildung zur Hauswirtschafterin. Eigentlich war sie auf einem guten Weg, doch dann gab es einen privaten Schicksalsschlag, und sie brach die Ausbildung im dritten Jahr ab.
Gemeinsam mit den Töchtern zog sie nach Stuttgart, näher zu deren Großeltern. Hier war sie arbeitssuchend, auf Ein-Euro-Job-Basis im Verkauf beschäftigt – doch zugleich hartnäckig auf der Suche nach einer zweiten Chance. So stieß sie Ende 2014 auf das Anna-Haag-Haus, knüpfte Kontakt, lernte das Haus in einem Praktikum kennen und war – unterstützt von ihrer Sachbearbeiterin der Agentur für Arbeit – weit vor Beginn der Umschulung die erste Voranmeldung. Und nun, knapp zwei Jahre später? Rica Pankewitz bereitet sich auf ihre Abschlussprüfung vor, ein Vorstellungsgespräch für einen Arbeitsplatz als Hauswirtschafterin fand bereits statt. Über ihre persönliche Entwicklung sagt sie selbst: »Ich habe in diesen zwei Jahren nicht nur fachlich viel gelernt, sondern auch sehr an Selbstvertrauen gewonnen.« Und sie hat weitere Ziele: Rica Pankewitz möchte nach einiger Zeit im Beruf noch einmal die Schulbank drücken und sich zur »Meisterin der Hauswirtschaft« weiterbilden.
Andreza Holzhofer ist ebenfalls eine Umschülerin der ersten Stunde, wie Rica Pankewitz wird sie Ende Juli 2017 abschließen. Die 41-Jährige stammt aus Brasilien, hatte dort eine Ausbildung zur Hotelrezeptionistin absolviert, geheiratet, Kinder bekommen und im Geschäft ihres Mannes die Buchhaltung geführt. Es kam zur Scheidung, und Andreza Holzhofer arbeitete wieder in ihrem ursprünglichen Beruf. Dann lernte sie ihren späteren zweiten Ehemann – einen Deutschen – kennen und zog 2006 nach Deutschland. Die erste Zeit im neuen Land prägten Sprachkurse, denn Andreza Holzhofer wollte sich nicht nur privat, sondern auch beruflich eine Zukunft aufbauen. Ihre Ausbildung wurde hier nicht anerkannt, und so suchte sie nach Alternativen. In der Großküche einer Seniorenresidenz wurde sie fündig und als ungelernte Beiköchin eingestellt. Auch nach einem Ortswechsel fand sie in diesem Bereich wieder eine Stelle, sammelte insgesamt fünf Jahre Berufserfahrung. In dieser Zeit wuchs bei Andreza Holzhofer der Wunsch nach einem qualifizierten Berufsabschluss: »Ich konnte noch so gut arbeiten, aber als Ungelernte würde ich immer weniger verdienen als die Kollegen.«
Ihre Ursprungsidee, zu arbeiten und nebenberuflich eine Ausbildung zu absolvieren, ließ sich nicht umsetzen. Dann machte eine Beraterin der Agentur für Arbeit sie auf die Umschulung zur Hauswirtschafterin im Anna-Haag-Haus aufmerksam. Sie gab ihren bisherigen Job auf und stieg nahtlos in die Umschulung ein – ein Schritt, den sie nie bereut hat. Hauswirtschaft ist, so ihre Einschätzung, genau ihr Metier. Rückblickend bestand für die portugiesische Muttersprachlerin die größte Herausforderung darin, auf Deutsch zu lernen: »Anfangs musste ich alles zwei Mal lesen und ins Portugiesische übersetzen – das war schwer!«. Heute ist sie stolz, dass sie durchgehalten hat. Sie lernt inzwischen nicht nur auf Deutsch, sondern denkt und träumt immer häufiger in dieser Sprache. Die Umschulung und insbesondere der Umgang mit den Menschen im Anna-Haag-Haus hat Andreza Holzhofer entscheidend vorangebracht: Zum einen beruflich, denn sie hat nach ihrem Abschluss bereits eine Vollzeitstelle als Hauswirtschafterin in einem Privathaushalt in Aussicht. Zum anderen persönlich, denn wie sie sagt: »Man lernt hier etwas sehr Wertvolles: Fingerspitzengefühl für den Umgang mit Menschen unterschiedlicher Generationen.«